Das Schuljahr war gerade zehn Tage jung, ich frisch gewordene Lehrerin, als mich eine Mutter eines Erstkläßlers zum ersten Mal auf DIE anderen hinwies:
„DIE anderen“, so sprach sie, „haben schon fünf Buchstaben, wir nur drei, Sie müssen etwas tun!“
DIE anderen, so stellte sich schnell heraus, waren Kinder, Eltern oder gar ganze Schulen in weit entfernten anonymen Städten, von denen man über dreißig bis vierzig Personen gehört hatte – „der Cousin meiner Tante und dessen Neffe und davon der Freund seine Mutter“ – dass sie schneller, weiter und natürlich viel besser in allem und jedem seien als die eigene Klasse, das eigene Kind, die eigene Schule.
In diesem Falle stellte sich heraus, handelte es sich um die
Schule eines anderen Bundeslandes. Eines Bundeslandes, dessen Sommerferien zwei
Wochen vor den unserigen geendet waren.
Der dezente Hinweis meinerseits – auf das andere Bundesland – brachte nicht die erhoffte Wirkung sondern rief noch andere auf den Plan, DIE praktisch in der Nachbarschule waren – sagen wir geschätzte 100 Kilometer entfernt, Name der Schule unbekannt – DIE aber auch schon viel weiter waren, besser unterrichtet wurden und wo DIE Kinder auf jeden Fall mehr lernten.
„DIE anderen“, so erfuhr ich dann im zweiten Schuljahr, „hatten schon in der ersten Woche des zweiten Schuljahres das komplette Einmaleins gelernt!“
„Bei unseren Defiziten diesbezüglich“, so waren sich die Eltern einig, „würden wir DIE anderen nie einholen können und somit seien die Kinder unserer Klasse aufs äußerste diskriminiert und es stünde nun schon fest, dass eine gymnasiale Karriere ausgeschlossen sei.“
Nachdem wir dies also als festen Tatbestand festhalten konnten, irritierte nur die Feststellung eines anderen Elternteils: „DIE anderen in Bonnbrautbreitbach lernen erst gar kein Einmaleins mehr!“
Dies wiederum war eine unumstößliche Tatsache, die Tante Helga mit ihren geschätzten 89 Jahren von Tante Irmgard gehört hatte. Und Tante Irmgard wiederum hatte einen Cousin sechzehnten Grades, dessen Großnichte einen Freund hatte, dessen Freund jemanden kannte, der dies aus ganz sicher Quelle wusste.
Die Empörung schlug hitzige Wellen und das Ausmaß der Diskriminierung der Kinder der Klasse wuchs potenziell.
Im dritten Schuljahr erfuhr ich, dass bei DEN anderen die Benotung viel besser sei, da weniger streng. Zudem schrieben DIE anderen viel mehr Diktate, mehr Mathearbeiten und überhaupt, DIE anderen hatten es wie immer weitaus besser und waren auch wie immer weitaus schneller.
So gab es zum Beispiel ganz andere, die ließen einfach den Stoff des 3. Schuljahres aus und gingen nahtlos über zum Stoff des vierten Schuljahres, nur um im vierten Schuljahr dann den Stoff des fünften Schuljahres quasi vorzulernen.
Nicht zu vergessen auch DIE anderen, deren Lehrerin täglich für die Kinder Brötchen schmierte, so dass die Eltern sich erst gar nicht mehr mühevoll um das Pausenbrot kümmern musste.
Auch immer wieder gern erwähnt, DIE anderen, die tatsächlich im Mathebuch schon auf Seite 72 waren, während wir uns noch mit Seite 52 herumplagten, wenn überhaupt.
Dass es sich um unterschiedliche Lehrwerke handelt spielte hierbei keine Rolle, denn: Weiter ist weiter und weiter ist besser!
Das vierte Schuljahr brachte die Einsicht: „DIE anderen sind einfach fitter für den Übergang!“
Selbstverständlich mussten sie dies sein, denn sie hatten ja, wie bereits im dritten Schuljahr festgestellt, das vierte Schuljahr in Klasse 3 vorgezogen, zudem schmierte die Lehrerin ja gesunde Brötchen und kopiert wurde bei DEN anderen wahlweise weniger oder viel mehr, je nachdem, wie man als Elternteil gerade argumentieren wollte.
DIE anderen machten auch wahnsinnig tolle Abschlussfahrten, mindestens ins europäische Ausland und natürlich nur „für’n Appel und Ei“.
Weshalb sollte man also selber für eine popelige Jugendherberge im 60 km entfernten Städtchen mehr zahlen, als DIE anderen für einen Auslandstrip?
DIE anderen, so gipfelte es denn, DIE anderen hatten auch wesentlich mehr oder gar keine Hausaufgaben auf.
Die Elternschaft war sich diesbezüglich uneinig, was für unsere Klasse denn nun die bessere Alternative wäre und geriet ein wenig in Streit.
Ich selber mag DIE anderen sehr!
Es umgibt sie der Schleier des Mystischen und auch wenn ich mich niemals werde mit ihnen messen können sind sie mir sympathisch.
Denn eines ist sicher:
In Bonnbrautbreitbach sitzt die Cousine des bestens Freundes meines Exschwagers und diese Cousine hat eine Freundin, deren Nichte einen Freund hat der einen Vater hat der auch irgendwen kennt – ich komme nur gerade nicht darauf wen – aber dieser Mensch dort irgendwo verkündet zu meinen Gunsten, dass die Kinder meiner Klasse, also DIE anderen, viel weiter, viel schneller und sowieso viel besser sind!
Und das stimmt natürlich!
Damals, heute und in Zukunft!
Ich möchte gerade mit einem zaghaften "Ihnen auch einen wunderschönen Guten Morgen!" antworten, als eine Menge loser, eindeutig zerrissener Heftseiten vor mir auf dem Tisch landen.
"Warum zerreißen Sie das Heft meines Sohnes?" werde ich zornglühend gefragt.
"Ich zerreiße grundsätzlich keine Hefte!" wende ich ein und frage nach: "Wer ist denn bitte Ihr Sohn?"
"Jan-Pascal natürlich!" werde ich informiert und ich forsche in meinem Gedächtnis, ehe ich zu dem Schluss komme, noch nie ein Kind diesen Namens unterrichtet zu haben.
"Ich unterrichte Ihren Sohn nicht!" teile ich der nach wie vor wütenden Mutter mit, doch diese weiß es besser und erwidert:
"Sie sind doch die Dicke mit den roten Haaren, Frau Schäfer, oder?" Nun könnte man das sicher charmanter ausdrücken, aber ich kann die beiden Kennzeichen auch nicht unbedingt leugnen.
"Ich bin Frau Schäfer, ja!" bestätige ich zumindest einmal meinen Namen.
"Dann sind Sie doch die Religionslehrerin meines Sohnes. Wieso kennen Sie ihn dann nicht?"
"Nun, das wird daran liegen, dass ich nicht die Religionslehrerin Ihres Sohnes bin, ich erteile schon seit mehreren Jahren keinen Religionsunterricht mehr!"
Die Mutter jedoch ist sich sicher: "Mein Sohn wird doch wissen, wer ihn unterrichtet!"
Ich bemühe mich eine gelassene Freundlichkeit auszustrahlen und weise darauf hin, dass ich durchaus auch sehr genau weiß, wen und was ich unterrichte. Mein Einwurf wird mit Ignoranz gestraft und ich werde noch einmal nachdrücklich auf das zerrissene Heft hingewiesen, dass ich ebenso wie Mutter und Sohn nie zuvor gesehen habe.
"Ich bin mit diesem Vorgehen nicht einverstanden!" wird mir mitgeteilt und ich kann das durchaus nachvollziehen. Allerdings wende ich ein, dass es sinnvoll wäre mit jener Lehrkraft zu sprechen, die den Religionsunterricht erteilt worauf mir empört geantwortet wird:
"Deshalb sitz ich doch bei Ihnen!"
Ich beginne langsam daran zu zweifeln, ob ich nicht vielleicht in einem Paralleluniversum als Relilehrerin in Erscheinung trete, aber dann erscheint mir der Gedanke doch zu absurd und ich versuche das Gespräch freundlich, aber bestimmt zu beenden.
"Ich bin noch lange nicht fertig!" äußert die Mutter. Ich schon, aber es erscheint mir nutzlos, dies an dieser Stelle zu erwähnen.
Also nenne ich die Namen jener Kolleginnen und Kollegen, die bei uns für den Religionsunterricht zuständig sind, aber die Namen prallen bedeutungslos an meinem Gegenüber ab.
"Was ist das hier für ein Verein?" werde ich mehr oder weniger rhetorisch gefragt "Wissen Sie nichtmal was und wen Sie unterrichten?"
Nun, ich hielt mich bislang in der Tat in der Lage, dies zu wissen und zu unterscheiden, aber erste zaghafte Zweifel ziehen in mein Gemüt.
"Ich werde mich auf jeden Fall beim Schulamt über Sie und Ihren Religionsunterricht beschweren!" kündigt die Mutter an, während ich vorschlage, das Gespräch im Rektorat weiterzuführen.
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